Alain Visser, 62, bis Anfang 2024 CEO des zum chinesischen Geely-Konzern gehörenden Stromer-Herstellers Lynk&Co, rechnet im Interview mit dem Portal Turi.Moove scharf mit der Autoindustrie ab. Sein zentrales Urteil lautet: „Die Autoindustrie hasst die Elektromobilität doch in Wahrheit.“ Nach seinem Abschied arbeitet Visser in Göteborg an einem neuen Mobilitäts-Start-up, über dessen Details er noch schweigt. Klar ist nur der Ansatz: „Xperience over ownership“ – Erlebnis statt Besitz.
Visser sagt, echte Mobilität entstehe nur außerhalb der klassischen Autoindustrie. Menschen wollten mobil sein, nicht zwingend ein Fahrzeug besitzen. „Mobility as a Service“ sei der Megatrend, während Hersteller in Wahrheit vor allem weiter Autos verkaufen wollten. Investitionen in Sharing und autonomes Fahren bewertet er skeptisch. „Meine persönliche Meinung ist: Die Autoindustrie tut alles, um zu zeigen, dass Sharing nicht funktioniert.“
Als Beleg verweist er auf Mercedes und BMW, die ihre Sharing-Aktivitäten zunächst zusammenlegten und später verkauften. Der Grundkonflikt sei offensichtlich: Je mehr geteilt werde, desto weniger Autos würden verkauft. Disruptive Innovationen sieht Visser kaum, erst mit echtem autonomen Fahren werde sich das ändern.
Dann, so seine Prognose, werde Mobilität per App bestellt. Bis 2050 lebten rund 80 Prozent der Menschen in Städten, Parkplätze und stehende Autos verlören an Bedeutung. Mobilität werde elektrisch, Fahrzeuge würden geteilt. Luxusmarken blieben als Sammlerstücke bestehen, doch Tankstellen würden rar, während Ladeinfrastruktur allgegenwärtig sei.
„Die Zukunft der Mobilität wird eine Dienstleistung sein“
Zur Einordnung zieht Visser Parallelen zur Luftfahrt: Niemand fliege mit Boeing, sondern mit einer Airline. Ebenso nutze man heute Uber statt ein eigenes Auto. Die Zukunft der Mobilität sei eine Dienstleistung, nicht ein Produkt. „Wenn die Autoindustrie nicht aufpasst, wird sie ein reiner Zulieferer sein von austauschbaren Karossen für Dienstleistungsanbieter.“
Bei Lynk&Co habe das Sharing-Modell funktioniert, so Visser. Rund 35 Prozent der Fahrzeuge seien regelmäßig geteilt worden, in Berlin sogar über 50 Prozent. Die Marke setzte bewusst auf Clubs statt Händler, wenige Varianten und ein starkes Community-Konzept. Der Fokus lag auf Nutzung statt Verkauf – ein Ansatz, der innerhalb eines Konzerns auf Widerstände stieß.
Der Bruch kam, als Preissenkungen von Tesla und BYD den Druck erhöhten, schneller profitabel zu werden. Statt Abos rückte wieder der Verkauf in den Vordergrund. Das sei nicht mehr sein Weg gewesen. Die Trennung von Lynk&Co beschreibt Visser als freundlich, die strategischen Ziele mit Eigentümer Geely hätten sich unterschieden.
Kritisch sieht Visser auch die Sharing Economy insgesamt. Respektloser Umgang mit Fahrzeugen habe die Reparaturkosten erhöht und die Restwerte gedrückt. Als Lösung nennt er „Peer-to-Peer-Sharing“, bei dem persönliche Verantwortung das Verhalten verändere.
„Perfect Storm“ für Autoindustrie
Für die Autoindustrie diagnostiziert Visser einen „Perfect Storm“ aus vier disruptiven Entwicklungen: Elektromobilität, dem wachsenden Druck chinesischer Hersteller, Software als zentralem Differenzierungsfaktor und einem veränderten Konsumentenverhalten. Zur Software zitiert er den chinesischen Technologiekonzern Huawei: „Wir bauen keine Autos – wir bauen Software, und Autohersteller bauen das Auto drumherum.“
Deutschlands Rolle im globalen Wettbewerb sieht Visser „pessimistisch, aber nicht hoffnungslos“. Die großen Hersteller seien „too big to fail“, politisch werde man sie stützen. Aber deutsche Technologie und Qualität seien längst kein großer Vorsprung mehr. In den USA sei die Lage ähnlich: Man schütze sich künstlich, fahre weiter Pick-ups mit V8-Motoren – das werde sich rächen. Zumal die chinesische Konkurrenz sich mit keiner dieser vier großen Entwicklungen – E-Mobilität, Druck chinesischer Hersteller, Software als Differenzierungsfaktor und verändertes Konsumentenverhalten – wirklich beschäftigen müsse.
„Die westliche Autoindustrie muss endlich aufhören, nur aufholen zu wollen – und anfangen, komplett neu zu denken“, so Vissers Fazit. „Die Chinesen kopieren und verbessern alles, was wir erfunden haben. Unsere Aufgabe ist nicht, sie nun zu kopieren, sondern das Nächste zu entdecken.“
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